
CAS Philosophie (BS): Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 1 — ein Lektürekurs (WS 2021-22)
„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen — und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Syptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden.“ (KSA 5, 253)
Nietzsches 1887 erschienene Schrift Zur Genealogie der Moral ist ein Meilenstein der europäischen Moralkritik. Diese „Streitschrift“ tut grob gesagt zwei Dinge: Sie reiht sich ein in eine lange Tradition der Moralphilosophie, die vom nicht-idealen Menschen und seinen konkreten Bedürfnissen und versteckten Triebfedern ausgeht, und sie bringt die kritische Beurteilung moralischer Forderungen auf eine neue Form: die Form der Genealogie. Der Grundgedanke dieser Genealogie ist es, die geltenden moralischen Forderungen durch einen Rückgang auf ihre nicht- oder unmoralischen Entstehungsbedingungen zu kompromittieren.
Mit dieser neuen Form einer genealogischen Kritik hat Nietzsche wichtige Impulse für das moderne Selbstverständnis des Menschen im 20. Jahrhundert gegeben und damit so unterschiedliche Denker*innen wie Sigmund Freud, Albert Camus, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Max Weber, Georges Bataille, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Bernard Williams, Judith Butler nachhaltig irritiert und inspiriert. Mit der Frage, was für eine Form der Kritik die Genealogie sei, wird sich die Folgeveranstaltung (Zur Genealogie der Moral 2) im FS 2022 beschäftigen.
Im WS 2021-22 wird hingegen Nietzsches Text selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Die Genealogie der Moral ist keineswegs Nietzsches erste Auseinandersetzung mit der Moral. Bereits in Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878-1880) erprobt Nietzsche in geschliffener aphoristischer Form eine breites Spektrum kritischer Einwände gegen die überkommenen Moral. Dieses Projekt führt Nietzsche in zwei Folgebüchern (Morgenröthe von 1881 und Die fröhliche Wissenschaft, 1882) lose fort, seine eigene Form aber findet es erst in der Genealogie. Obwohl die Genealogie also als die avancierteste Gestalt von Nietzsches Moralkritik gelten kann, erspart uns Nietzsche die aufmerksame Lektüre keineswegs. Ohnehin kein Freund philosophischen „Thesenwesens“ lockt Nietzsche seine Leser in ein Text-Gestrüpp voller Haken und Ösen, voller Provokationen und Hinterhalte, aus dem der Gedanke erst herausgearbeitet werden muss. Gleichwohl lohnt sich die geduldige Lektüre Nietzsches immer: Sie bietet die einmalige Chance, Nietzsches Denken, das durch ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Art philosophischer Systematisierung geprägt ist, bei der Arbeit zuzusehen.
Textgrundlage: Wir arbeiten mit der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgten kritischen Edition der Genealogie der Moral, die in der Kritischen Studienausgabe (KSA, Bd. 5) gut greifbar ist (z.B. ISBN 978-3-423-30155-8). Alle Teilnehmer*innen sind gebeten, sich diese Ausgabe anzuschaffen.
Leitung der Veranstaltung: Dr. Andreas Cremonini
Anmeldung: über den Anmeldebutton rechts / Die Veranstaltung findet als Präsenz-Veranstaltung statt, es gelten die Covid-19-Regeln der Universität Basel (Zertifikatspflicht/Maske) / auf Wunsch kann die Veranstaltung auch als Live-Streaming-Veranstaltung besucht werden (bitte unter „Beruf“ im Anmelde-Formular den Wunsch „online“ vermerken)
Daten: 27. Oktober 2021 – 26. Januar 2022, jeweils Mittwoch 18.15 – 20 Uhr (Weihnachtspause 29.12.21, 5.1.22)
Teilnahmegebühren: CHF 900 (für Entresol-Mitglieder CHF 800)